Warum wir Geschichten lieben

Die evolutionäre Entwicklung von Storytelling

Menschen lieben Geschichten! Jeder einzelne von uns. Unsere grundlegende Natur ist die des emotionalen »Storytellers«. Und das hat einen Grund. Dieser Grund ist nichts weniger als die Basis unserer Zivilisation. Das Erfolgsgeheimnis von Homo sapiens auf diesem Planeten.

Zumindest ist das eine anerkannte Theorie in der modernen Wissenschaft. Warum war Homo sapiens so viel erfolgreicher als seine körperlich überlegenen Cousins und Cousinen, die Neandertaler? Oder jede andere humanoide Spezies, die vor oder parallel zum Sapiens auf der Erde lebte und den Überlebenskampf offensichtlich nicht gewonnen hat? Was ist das Geheimnis von Homo sapiens?


Überleben durch Geschichtenerzählen

Es klingt recht simpel: die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und daran zu glauben ist der Grund, warum sich unsere Spezies bisher so erfolgreich durchgesetzt hat. Denn das hat gleich mehrere evolutionäre Vorteile:

Zum einen schaffen Geschichten Verbundenheit. Wenn viele Individuen an die gleiche Geschichte glauben, verbindet das. Sie werden dadurch zu einer Gruppe, einer Einheit.

Quality time am Lagerfeuer: Netflix gab es vor 70.000 Jahren noch nicht

Heute weiß man, dass Menschen in Gruppen bis zu 200 Personen einigermaßen den Überblick behalten. Man kennt sich untereinander und hat zu jedem Individuum irgendeine Art von Beziehung, kann Personen hierarchisch einordnen und weiß, wer mit wem befreundet, verwandt oder verfeindet ist. Ab einer Gruppengröße von 200 Mitgliedern aufwärts wird es schon komplizierter. Es sind keine persönlichen Beziehungen mehr zwischen allen Individuen möglich. Hier kommen Geschichten ins Spiel. Legenden von Heldentaten eines gemeinsamen Vorfahren, die abends am Lagerfeuer erzählt werden, eine Religion, durch deren Rituale man sich verbunden fühlt, oder der Glaube an den Wert einer gemeinsamen Währung – diese Geschichten erschaffen ein Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit.

Die verbindende Macht von Geschichten machte es Homo sapiens möglich, sich zu großen Gruppen zusammenzuschließen, die den Neandertaler-Stämmen zahlenmäßig weit überlegen waren.

Zum anderen lassen sich durch Geschichten wichtige Informationen vermitteln. So kann die Geschichte des Clans von Generation zu Generation überliefert werden. Regeln und Warnungen werden – in Geschichten verpackt – zu Lektionen für den Nachwuchs. Geschichten sind lehrreich und richtungsweisend. Manchmal sogar überlebenswichtig, wenn es zum Beispiel darum geht, wie der Cousin einem wild gewordenen Mammut entkommen ist, oder welches Kraut der Tochter des Nachbarn das Leben gerettet hat.

Bis heute erfüllen Geschichten diese wichtigen sozialen Funktionen, auch wenn wir uns dessen nicht immer bewusst sind. Nationalstaaten, Konzerne, Währungen, Religionen, Menschenrechte – sie alle basieren auf Geschichten und unserem Glauben daran. Diese Geschichten machen die Kooperation von tausenden, sogar Millionen von Menschen möglich, die sich noch nie in ihrem Leben begegnet sind.

Menschen, die sich noch nie begegnet sind, werden durch Geschichten zusammen geschweißt.

Die Geschichte der Geschichte

Unser Gehirn ist vermutlich seit 70.000 Jahren auf Geschichten getrimmt. Die ersten Geschichten wurden – logisch – oral überliefert. Vor 40.000 Jahren begannen unsere Vorfahren damit, einzelne Geschichten in Bildern auf Höhlenwänden festzuhalten. Erst 35.000 Jahre später erfanden die Sumerer in Mesopotamien das wahrscheinlich erste Schrift- und Zahlensystem. Es diente einem sehr pragmatischen Zweck: Einkommen, Besitz, Steuerzahlungen und Schulden wurden damit festgehalten. Da es irgendwann schlichtweg unmöglich wurde, die Datenmengen der stetig wachsenden Bevölkerung im Gedächtnis zu behalten, war der Schritt zur Schrift eine logische Konsequenz. Prosatexte ließen allerdings noch eine ganze Weile auf sich warten. So lässt sich erklären, was längst erwiesene Tatsache ist:


Menschen sind deutlich besser darin, Geschichten zu verarbeiten, als Zahlen und Fakten. Unsere Gehirne sind biologisch darauf ausgelegt.

Das Geschichtenerzählen steckt also naturgemäß in uns drin. Jeden Tag erzählen wir unserer Partnerin, Freunden oder der Familie, was uns alles passiert ist. Angeblich kommunizieren wir im Alltag zu 65 % in Form von Geschichten. Wenn wir jemanden kennenlernen möchten, tauschen wir Erlebnisse aus der Vergangenheit aus. Oder wir berichten von persönlichen Erfahrungen, um andere Menschen vor etwas zu warnen oder guten Rat zu erteilen. Das alles tun wir, ohne großartig darüber nachzudenken.

Was aber steckt genau hinter der Wirkweise von Geschichten? Wann und wieso funktionieren sie? In TEIL II »Warum wir Geschichten lieben« werden wir uns diesen Aspekt genauer anschauen.

Kirsten Piepenbring

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