10 Jahre

Warum wir Geschichten lieben

Wieso funktioniert Storytelling so gut?

In Teil I unserer Storytelling-Serie haben wir gelernt, wieso uns das Geschichtenerzählen im Blut liegt und welche evolutionären Vorteile es für unsere Vorfahren hatte. In diesem Teil möchten wir uns mit der Frage beschäftigen, wieso Geschichten überhaupt so gut funktionieren und was sie in unserem Körper auslösen.

Die drei »E«

Die geheime Superkraft von Geschichten setzt sich aus drei Dingen zusammen:

Ereignisse

Emotionen

Erfahrungen


Ereignisse

Eine Geschichte besteht – einfach ausgedrückt – aus Ereignissen. Ob viele laute Ereignisse parallel oder hintereinander ablaufen, oder sich ein leises Ereignis über die gesamte Länge der Geschichte entwickelt, ist dabei egal. Wichtig ist nur, dass diese Ereignisse das limbische System – den »alten Teil« unseres Gehirns – ansprechen.

Wissenschaftler*innen haben erforscht, dass Wörter wie »springen«, »prügeln« oder »schleichen« unseren Motorcortex stimulieren, also den Bereich, der für willkürliche Bewegungen zuständig ist. Wenn wir dagegen Begriffe wie »Kaffee« oder »Parfüm« lesen oder hören, regt das den olfaktorischen Cortex an, das Areal für die Verarbeitung von Gerüchen. Das bedeutet, dass eine gute Geschichte die gleichen Gehirnareale aktiviert, die auch bei einem realen Ereignis anspringen würden – die entsprechenden Emotionen inklusive. Wir erleben also durch Geschichten die Ereignisse ähnlich, als würden sie uns selber passieren.

Emotionen

Wir erinnern uns besonders gut an sehr emotionale Erlebnisse. Das kann man leicht bei sich selber überprüfen. Welche Erlebnisse aus der Kindheit sind bis heute so präsent, als wären sie erst gestern geschehen? In der Regel solche, die wir mit starken Emotionen verknüpfen, wie Angst oder Glück. Was ich als Kind jeden Tag gefrühstückt habe, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich aber sehr lebhaft an den Tag, an dem ich mir mit meiner Schwester eine Essenschlacht in der Küche lieferte, bis das Frühstück an den Wänden klebte und unsere Mutter mit uns schimpfte.

Unsere Erlebnisse und die damit verknüpften Emotionen werden alle in unserem sogenannten emotionalen Erfahrungsgedächtnis abgespeichert, das auch im »alten Teil« unseres Gehirns liegt. Gutes Storytelling spricht genau diesen Teil in uns an und sorgt dafür, dass wir bei einer Geschichte emotional mitfühlen.

Erfahrungen

Gerade weil sich gute Geschichten für unser Gehirn so anfühlen, als würden wir sie selber erleben, beinhalten sie etwas sehr Wertvolles: Erfahrungen. Geschichten bieten uns die Möglichkeit, in einer sicheren Umgebung Erfahrungen zu sammeln, Dinge auszuprobieren, oder Emotionen zu durchleben. Schon Aristoteles kannte dieses Phänomen und nannte es »Katharsis«. Geschichten haben aber natürlich nicht genau denselben Effekt, als wenn wir ein Ereignis am eigenen Leib erfahren. Wenn ein Axtmörder in dein Haus eindringt, ist deine Todesangst wohl nicht vergleichbar mit dem freudigen Schauer, der dich im Kino bei einem Horrorfilm überkommt. Aber genau darin liegt der Vorteil von Geschichten: sie erlauben uns, Erfahrungen zu durchleben und gleichzeitig die Situation auf einer rationalen Ebenen und aus sicherer Distanz zu analysieren. Wir können unsere Reaktionen auf das Erlebte prüfen, unsere Haltung gegenüber den Handelnden und ihren Verhaltensweisen beobachten und analysieren (»Ist doch logisch, dass die stirbt, wenn sie NACH OBEN läuft«).


Aus Geschichten lernen

Der Sinn dahinter? Unser Gehirn hofft einerseits etwas zu lernen, was uns auf reale Situationen vorbereitet. Und ist andererseits stets auf der Suche nach Antworten – sowohl auf die großen Fragen der Menschheit, genau wie auf die kleinen Irrungen und Wirrungen des Alltags.

Geschichten erzählen uns vom Wandel. Die Protagonistin ist am Ende des Buchs ein anderer Mensch, geprägt von den Ereignissen, die ihr im Laufe der Geschichte widerfahren. Und damit können wir uns sehr gut identifizieren. Auch deshalb sind wir so große Story-Fans. Veränderungen sind ein großer Teil unseres Lebens und wir verbringen viel Zeit damit, abzuwägen, wie wir darauf reagieren sollen. Deshalb überrascht es nicht, dass die grundlegenden Themen von Geschichten über Jahrtausende und verschiedenste Kulturen hinweg immer wieder die gleichen sind. Sie kommen oft in unterschiedlichen Verpackungen daher, aber Themen wie das Erwachsenwerden, die Angst vor dem Tod oder der Kampf zwischen Gut und Böse sind universell und beschäftigen alle Menschen. Überall. Ständig.


Die Biochemie hinter Storytelling

Der Erfolg von Geschichten lässt sich ziemlich deutlich in Zahlen messen. Darauf gehen wir im dritten Teil unserer Serie noch genauer ein. Man kann den Einfluss von Geschichten aber auch auf biochemischem Level beobachten. Verschiedene Botenstoffe spielen dabei eine Rolle und die Art der Geschichte bestimmt, welcher Botenstoff ausgeschüttet wird und was dieser bewirkt.

Eine kleine Auswahl:

Spannende Geschichten

setzen Dopamin frei. Je spannender, desto mehr Dopamin wird freigesetzt – klingt logisch. Der allseits bekannte Cliffhanger hinterlässt uns am Ende einer spannenden Folge mit abgekauten Fingernägeln, gefolgt von entrüstetem Haareraufen – und führt in Zeiten von Netflix und Co. nicht selten zum Binge-Watching der kompletten Staffel an einem freien Sonntagnachmittag, weil man so in der Story gefangen ist.

Dopamin verstärkt unsere Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Motivation und das Erinnerungsvermögen. Übrigens setzen alle Arten von Geschichten Dopamin frei – spannende aber ganz besonders viel.


Rührende Geschichten

Oxytocin wird oft mit schwangeren Frauen in Verbindung gebracht, denn sie schütten viel davon aus. Es schafft Empathie, Vertrauen und Bindung. Oxytocin wird vor allem von Geschichten angeregt, die emotional und berührend sind. Vor allem NGOs, die sich um Menschen in Hungersnot oder die Rettung des Regenwaldes bemühen, setzen auf Oxytocin ausschüttende Geschichten, um unsere Großzügigkeit beim Spenden zu steigern.


Lustige Geschichten

lösen die Ausschüttung von Endorphinen aus. Den Begriff hat wahrscheinlich jede*r schon mal gehört. Ob im Zusammenhang mit Sex oder Sport, er ist zweifelsfrei stets positiv belegt, vielen sogar als »Glückshormon« bekannt. Endorphine veranlassen, dass man kreativ, entspannt und fokussiert wird.


Schreckliche und angsteinflößende Geschichten

Wer gerne Horrorfilme schaut, kennt den wohligen Schauer, den wir auch schon im Teil »Erfahrungen« beschrieben haben. Schauergeschichten führen dazu, dass unser Körper Cortisol und Adrenalin ausschüttet. Das fördert zum einen die Aufmerksamkeit (schließlich möchte man ungern verpassen, wie die Frau, die entgegen jede Vernunft die Treppe hinauf gelaufen ist, vom Axtmörder in Stücke gehackt wird).

Die beiden Stoffe bringen aber auch weniger schöne Wirkungen. Angst kann unsere Toleranz, Kreativität und das Erinnerungsvermögen einschränken. Und unsere Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen (siehe die Frau, die die Treppe hochläuft).

Im Kino mag sich der Schaden in Grenzen halten. Doch wir alle wissen aus unserem Alltag, wie mit Angst und Katastrophen-Szenarien versucht wird, unsere Entscheidungen zu beeinflussen. Nicht zuletzt in gewissen politischen Lagern wird diese Art des Storytellings eingesetzt, um Wähler*innen zu gewinnen, für ein Thema zu mobilisieren oder die Gesellschaft zu spalten (wobei sich Propaganda natürlich auch der anderen Arten von Storytelling bedienen kann).

Wir lernen also, dass gut erzählte Geschichten die Biochemie unseres Gehirns beeinflussen und damit Auswirkungen auf unsere Empfindungen und sogar unser Verhalten haben können.

Der Grund dafür schließt den Kreis zu Teil I unserer Serie. Der Mensch ist ein zutiefst soziales Wesen und darauf angewiesen, in größeren Gruppen zurechtzukommen. Diese biochemischen Prozesse in unserem Körper sind die Grundlage dafür, dass sich große Menschengruppen zusammentun und für eine gemeinsame Sache begeistern können.

Damit Geschichten aber diese Wirkung entfalten können, müssen sie auf eine gewisse Art und Weise aufgebaut sein. Wie das genau funktioniert, erfahrt ihr in Teil III unserer Serie.

Storyboard & Illustration
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