Warum wir Geschichten lieben

Story sells! Alles verkauft sich besser mit Geschichten.

Emotionen vs. Vernunft

Irgendwie hat sich in unserer Gesellschaft die Annahme breit gemacht, dass Zahlen und Fakten grundsätzlich professionell, seriös und dadurch die beste Grundlage für vernünftige (Kauf)Entscheidungen sind. Seit dem Zeitalter der Aufklärung im 18. Jahrhundert nimmt vor allem in westlich geprägten Teilen der Welt die Vernunft einen sehr hohen Stellenwert ein. Emotionen und emotional geprägten Entscheidungen haften seitdem etwas Unprofessionelles und sogar Infantiles an. Dabei verkennen wir, dass wir jeden Tag tausende von Entscheidungen auf der Grundlage von Emotionen und nicht etwa von Vernunft treffen. Anders wären wir auch gar nicht in der Lage unseren Alltag zu bewältigen. Denn der bewusste, vernunftbasierte Entscheidungsprozess ist sehr langsam und dadurch in den meisten Situationen sehr unpraktisch. Auch wenn wir es nicht merken, oder wahrhaben wollen: Emotionen spielen eine ganz zentrale Rolle in unseren täglichen Entscheidungen. Denn wie wir in Teil I unserer Serie bereits gelernt haben, ist das menschliche Gehirn gar nicht dafür gemacht, Zahlen zu verarbeiten.

Trotzdem haben wir oft das Gefühl, mit Hilfe von künstlich erzeugten Emotionen »übers Ohr gehauen« zu werden und »etwas aufgeschwatzt« zu bekommen, was wir überhaupt nicht brauchen. Diese Skepsis ist einerseits gut nachvollziehbar und in vielen Fällen ist eine gewisse Vorsicht und Reflexion angebracht – gerade bei Werbung.

Wenn man von der eigenen Idee oder einem Produkt überzeugt und begeistert ist, spricht allerdings überhaupt nichts dagegen, mithilfe dieser Emotionen das Publikum mitzureißen – eingepackt in gutes Storytelling natürlich. Wir müssen das Stigma der Unseriosität einer emotionalen Darstellung überwinden. Emotionen können – auch im Marketing – authentisch sein, müssen aber entsprechend vermittelt werden. Man darf den »Bullshit-Radar« des Publikums nicht unterschätzen. Da wir in der Werbung schon seit Jahrzehnten mit (falschen) Emotionen konfrontiert werden, sind Menschen sehr sensibel für das Thema geworden und eine Kampagne, die offensichtlich nicht authentisch ist, wird in der Regel als solche entlarvt. Im schlimmsten Fall entsteht der Vorwurf, sich Ängsten zu bedienen, um den größtmöglichen Profit daraus zu schlagen – und die Kampagne geht nach hinten los.


Storytelling Superpower

Dabei liegen die Vorteile von (authentischem!) Storytelling im Marketing deutlich auf der Hand:

  • erhöhte und anhaltende Aufmerksamkeit (im Zeitalter von Social Media und endlosen Feeds ein unbezahlbares Gut)
  • emotional investiertes und dadurch hoch motiviertes Publikum
  • Verhaftung im Gedächtnis

Besonders der letzte Punkt ist interessant. Studien belegen: wenn Daten und Fakten »nüchtern« präsentiert werden, erinnern wir uns im Nachhinein lediglich an 5–10% davon. Das ist erschreckend wenig! Dieser Wert steigt auf unglaubliche 65–70%, wenn dieselben Daten in eine Geschichte verpackt werden. Das sind Zahlen, die man sich auf der Zunge zergehen lassen sollten: bis zu 65% gesteigertes Erinnerungsvermögen durch eine gute Geschichte! Spätestens jetzt müsste eigentlich jede*r Zahlen und Fakten als das erkennen, was sie sind und leisten können: ein solides Fundament, was potentiellen Kund*innen im zweiten Schritt gute Argumente an die Hand gibt, um ihre emotionale Neigung zu festigen. Wie der Philosoph und Autor Richard David Precht in einem Interview treffend formulierte:

Wie viel besser unser Gehirn Fakten durch Storytelling im Gedächtnis behält, kann man sehr leicht selber überprüfen: Bitte eine andere Person, 30 zufällig ausgewählte und nicht zusammenhängende Begriffe nacheinander vorzulesen und versuche, dir so viele wie möglich davon zu merken. Wiederhole den Versuch (natürlich mit anderen Begriffen) und erfinde dieses mal eine Geschichte, die alle Begriffe einspannt. Du ahnst es schon: das Ergebnis wird bedeutend besser ausfallen, als bei der ersten Runde. Den Trick kennt jeder Lehrer und jede Professorin, denn er wird gerne angewendet, um sich die Namen im Klassenzimmer zu merken.

Gutes Storytelling ist also von unschätzbarem Wert für jede Marke, jede Idee, jedes Produkt. Zahlen und Fakten sind ein solides Grundgerüst und unerlässlich – aber die Story ist es, die überzeugt.


Die Struktur guter Geschichten

Damit Geschichten überhaupt ihre volle Wirkung entfalten können, müssen sie gut erzählt sein. Schriftsteller*innen wird oft eine angeborene Gabe nachgesagt. Das mag zum Teil stimmen, aber die meisten guten Geschichten basieren am Ende des Tages auf einem recht einfachen Rezept, das weniger mit Inspiration und Kreativität, als mit solidem Handwerk zu tun hat.

Die Art und Weise, wie Menschen Geschichten erzählen, ist über Zeit und Raum hinweg erstaunlich gleichbleibend. Das »Gilgamesch Epos« entstand vor 4000 Jahren und ist damit die älteste uns bekannte verschriftlichte Geschichte. Es folgte damals schon klassischen Storytelling Prinzipien. Joseph Campbell – selbsternannter Mythenforscher – beschäftige sich in den 1950–70er Jahren mit Mythologien aus verschiedensten Kulturkreisen. Er verglich sie miteinander und machte eine überraschende Feststellung: nicht nur die Kernthemen waren sich überall erstaunlich ähnlich, auch die Struktur der Mythen, die er untersuchte, konnte auf dieselben wesentlichen Faktoren und archetypischen Charaktere heruntergebrochen werden. Campbell taufte das entdeckte Muster »Heldenreise« und verfasste ein ganzes Buch darüber. Inspiriert davon entwickelte George Lucas in den 1980er Jahren sein Meisterwerk »Star Wars«, das der Struktur einer Heldenreise folgt und bis heute einen unglaublichen Erfolg feiert. Viele Regisseure und Produzentinnen in Hollywood erkannten das Potenzial und taten es ihm gleich. Heute ist die Heldenreise die meistgenutzte Erzählform für Hollywood Blockbuster.

Auch Darth Vader kann der Magic einer gut erzählten Schmonzette nicht widerstehen. Auf dem Todesstern wird es halt manchmal einsam …

Die grundlegende Idee der Heldenreise ist recht einfach: ein Held oder eine Heldin steht vor einer Herausforderung, geht auf eine Reise, überwindet Hindernisse, besteht Prüfungen und kommt am Ende als veränderter Mensch mit der Lösung im Gepäck zurück zum Ausgangspunkt. Die Heldenreise besteht aus mehreren Stationen in einer ganz bestimmten Reihenfolge und mit verschiedenen Figuren, den sogenannten Archetypen. Dazu zählt natürlich der Held bzw. die Heldin der Geschichte, aber auch ein Mentor, der die Hauptfigur durch die Geschichte führt und ihr hilft. Und ein Gegenspieler darf natürlich auch nicht fehlen.

Die Hindernisse können von Außen kommen, oder nur im Kopf der Heldin existieren, für die grundlegende Struktur ist das letztendlich egal. Genauso wie die Frage, ob die Lösung ein Zaubertrank ist, oder die persönliche Weiterentwicklung der Hauptfigur, die es ihr ermöglicht, das Ausgangsproblem zu lösen.

Die komplette Struktur in der von Campbell erstellten Originalfassung umfasst 17 Stationen, man findet jedoch auch gekürzte Versionen.

Original Heldenreise nach Campbell. Damals gab es wohl noch keine weiblichen Heldinnen …

Die Archetypen in uns

Die moderne Neurowissenschaft unterstützt das Konzept von Psychoanalytiker C. G. Jung aus dem Jahr 1934, nach dem jede*r von uns ein Stückchen der oben genannten Archetypen in sich trägt. Deshalb können wir uns in einer guten Geschichte auch mit jedem Charakter ein kleines bisschen identifizieren. In ungewöhnlichen oder stressigen Situationen, oder wenn unsere Psyche unausgeglichen ist, tragen auch in uns diese Mini-Archetypen einen Kampf gegeneinander aus. Verständlich also, dass wir nach Konfliktlösungen und dem Ausbalancieren der verschiedenen Kräfte in Geschichten suchen. Es reflektiert den Wunsch, in uns selber für Ordnung und Harmonie zu sorgen. Dies scheint ein universeller Wunsch zu sein, ein wesentlicher Teil der menschlichen Natur, denn er spiegelt sich in Mythen und Geschichten auf der ganzen Welt wider.

Geschichtenerzählen ist tief in uns Menschen verwurzelt. Es ist vermutlich die Grundlage unserer Zivilisation und der Grund für den Erfolg unserer Art. Geschichten verbinden uns, lösen Gefühle in uns aus und motivieren zum Handeln. Weil unser Gehirn seit tausenden von Jahren darauf programmiert ist, kann es Geschichten deutlich besser verarbeiten, als Zahlen und Fakten. Inhalte werden besser verstanden und bleiben im Gedächtnis, wenn sie in eine Story verpackt sind. Gutes Storytelling ist deshalb ein unerlässlicher Baustein in jeder Marketing-Strategie, der bewusst und authentisch eingesetzt werden sollte. Vorher muss man sich aber immer fragen: Was ist das Ziel meiner Geschichte? Mit welcher Art von Geschichte erreiche ich dieses Ziel am besten? Wie muss die Geschichte dafür aufgebaut sein? Sind die Emotionen in meiner Geschichte ehrlich, authentisch und in Einklang mit meiner Botschaft? Wer diese Fragen beantworten kann, wird seine Botschaft mit Storytelling erfolgreicher, nachhaltiger und mit gutem Gewissen vermitteln können.

Kirsten Piepenbring

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